2015 hatte ich nachgezählt, wie es um die Chefdirigentinnen und Musikdirektorinnen dieser Welt steht. Ich habe in 46 willkürlich ausgewählten, meist weltberühmten Orchestern nachgezählt und musste feststellen, dass lediglich ein einziges von einer Frau geleitet wurde. Wie sieht es heute, drei Jahre später, aus?
Vor drei Jahren war Simone Young noch die einzige Dirigentin eines großen Orchesters. Sie war überhaupt in Deutschland die einzige Frau auf diesem Posten, wie die TV-Sendung Kulturzeit (3Sat) 2015 bei den über 130 Orchestern nachgezählt hatte. Doch Young ließ im selben Jahr ihren Vertrag auslaufen. Heute ist sie als freischaffende Dirigentin tätig.
Nachgezählt: So sieht es drei Jahre später aus
Ich habe daraufhin bei denselben 46 Orchestern noch einmal nachgezählt, denn Verträge liefen aus, neue Ernennungen von Chefdirigent_innen und Musikdirektor_innen standen an. Das Ergebnis?
Ja, tatsächlich: Nicht eine einzige Frau folgte Simone Young und den anderen Männern, deren Verträge ausliefen, nach.
Und #MeToo machte auch vor der Klassik nicht halt: Aktuell mussten zwei Chefdirigenten Konsequenzen aus ihrem Verhalten ziehen, nachdem sie von mehreren Frauen der sexuellen Gewalt bzw. sexuellen Belästigung beschuldigt wurden. Der eine trat im Einvernehmen mit dem Haus von seinem Posten zurück, der andere wurde mit sofortiger Wirkung entlassen. Auf den einen wird ein Mann in diesem Posten folgen, für den anderen steht die Nachfolge noch offen.
Ohne Frage wird die klassische Musik wie die meisten anderen Kulturbereiche von Männern dominiert. Auf Twitter schrieb @LislxD in diesem Zusammenhang einen bemerkenswerten Thread:
Wie ich eine längst überfällige Erleuchtung bezüglich der Geschlechterverhältnisse in der klassischen Musik hatte (Thread)
— Lisa (@LislxD) 5. Juni 2018
Mein ganzes Leben zieht an mir vorbei, weil ich mir plötzlich vorstelle, wie bedeutsam und motivierend es in meiner Kindheit gewesen wäre, mehr Pianistinnen zu sehen, und dass ich es mir dann vielleicht doch mit dem Klavierstudium überlegt hätte, und wo ich jetzt wäre.
— Lisa (@LislxD) 5. Juni 2018
Dieses Erlebnis haben Frauen in ähnlicher Form wahrscheinlich häufig, wenn sie mit klassischer Musik aufgewachsen sind und ihr heute noch nahestehen. Prominente oder wenigstens häufig sicht- und hörbare Vorbilder für Mädchen und junge Frauen, Identifikationsmöglichkeiten mit Solistinnen oder weiblichen Führungspersonen in der Klassik gibt es bis heute nur wenige oder sogar gar keine (s. o.). Und gäbe es sie, würden sie wahrscheinlich, wie fast immer bei Frauen, automatisch viel kritischer und schlechter bewertet, einfach nur, weil sie Frauen sind. Es bleibt ein ewiger Kreislauf, der immer zuungunsten von Mädchen und Frauen ausfällt.
Was kannst du tun?
Es ist höchste Zeit, dass sich das ändert. Doch das passiert nicht von allein. Du hast es mit in der Hand, dass es sich ändert. Was kannst du tun? Z. B. kannst du verlangen, dass die öffentlich-rechtlichen Klassik-Radiostationen und TV-Sender zu 50% Musik von Komponistinnen, Dirigentinnen und Solistinnen übertragen. Dass die aus öffentlichen Geldern finanzierten Opern- und Konzerthäuser nicht nur Männer in die Führungspositionen hieven, dass sie zu 50% Musik von Komponistinnen aufführen, und dass sie zu 50% Gastdirigentinnen und Solistinnen einladen. Und dass die Konzertveranstalter_innen in deiner Stadt zu 50% Konzerte von und mit Frauen veranstalten.
Kontaktiere die Häuser, Redaktionen und Veranstalter_innen – von selbst kommen sie ja offensichtlich alle nicht auf die Idee, dass Frauen ganz genauso gut sind wie Männer. Und dass Frauen und Mädchen weibliche Vorbilder und Identifikationsfiguren benötigen.
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Mach mal eine aktuelle Zählung in Politikgremien!
Vielleicht sind die Grünen da schon dran, Eva. Sie haben jedenfalls schon mal die Botschaften und Auslandsvertretungen durchzählen lassen:
(Quelle: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/in-deutschen-botschaften-sind-nur-13-prozent-der-leiterinnen-frauen-a-1236026.html)